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Meine schlimmste schönste Lesung

Seit einiger Zeit veröffentlicht das Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ regelmäßig unter der Rubrik „Meine schlimmste Lesung“ herausragende Texte von Autor*innen. Das erinnerte mich an eine Lesung in meinem Lieblingswohnstadtteil Düsseldorf-Oberkassel. 

Über diese Lesung habe ich in meinem Buch „Die schwarze Mamba“ geschrieben. Weil das Story-Buch nur noch im modernen Antiquariat zu kaufen ist, veröffentliche ich die Geschichte heute in meinem Blog. Viel Spaß bei der Lektüre.

Tolle Lesung: „Dichterstunde“

Lese-Termin in Oberkassel. Werner zeigt Interesse, als ich ihm erzähle, daß ich meine Lieblingsszenen aus meinen Büchern vorlesen will. „Literatur in Häusern der Stadt, heißt die Veranstaltung“, berichte ich stolz. „Und ich bin dabei. Zwanzig Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Die lesen eigene Texte, und Schauspieler die von Autoren wie Kafka.“

„Da wirst Du sicherlich Dein Publikum finden“, sagt er freundlich, lässt sich aber keinen Platz reservieren. 

„Jeder liest irgendwo anderes. Einer im Foyer der Victoria-Versicherung, einer im Haus einer Innenarchitektin. Einer sogar in einer Schreinerei, und ich in einem Fotostudio auf der Luegallee 18“, versuche ich den Jugendfreund zu ködern, „gar nicht weit von Dir weg“.

Werner nickt freundlich und meint, ich könnte ja auch ein paar neue Fotos für meinen Pass und meinen Führerschein gebrauchen: „Du siehst darauf immer noch aus wie von 1968. Vielleicht knipst der Dich, wenn Du gut liest.“

Jürgen, mein zweiter Jugendfreund, will unbedingt kommen, bis ihm im Verlauf unseres Gesprächs einfällt, daß er eine Verabredung hat: „Das Mädchen hat leider eine Literatur-Allergie.“ Christel reagiert erst gar nicht auf mein Telefax; überhaupt bleibt mein Telefon bis zum Abend der Lesung auffällig ruhig.

Ein Koffer voller Bücher

Eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn treffe ich im Fotostudio von Michael ein. Ich schleppe einen Koffer voller Bücher hoch in den zweiten Stock. Als ich ihn öffne und meine Bücher auf dem Tisch drapiere, sagt Michael: „Einen schönen Koffer haben Sie. Rimowa ist ja auch eine gute Qualität.“

Ein Schriftsteller freut sich über jedes Wort der Anerkennung, und ich schenke meinem Gastgeber spontan meinen neuen Roman mit einer ganz persönlichen Widmung für den gelungenen Leseabend, der noch gar nicht stattgefunden hat. In Hotels gebe ich auch immer vorher das Trinkgeld, damit der Service während meiner Anwesenheit funktioniert.

Dann treffen die Gäste ein. Jeder von ihnen zahlt 25 Mark Eintritt, nicht etwa, weil ich es mir wert bin oder den Leuten bei Dichtern oder Schriftstellern das Geld so locker sitzt. Nein, selbst Grass, der Ernste, oder Hacke, der Lustige, oder Westermann, die Regionale, können nicht mehr als zehn Mark für ihre Lesestunde nehmen. Für mich zahlt man 25 Mark, weil es ein Büfett gibt. Und Wein, Bier und Mineralwasser ohne Geschmack. Qualität hat eben ihren Preis. 

Der Gastgeber wird unruhig

Während sich die Stuhlreihen füllen und die Gäste überlegen, ob sie lieber auf einem blauen Stuhl von Ikea, einem Eichenstuhl von der spanischen Großmutter der Ehefrau oder auf einem wackligen 68er-Stuhl aus der Studentenzeit des Hausherrn sitzen möchten, bearbeite ich die Tastatur am Computer von Michael und suche eine Geschichte, die ich vor einem Jahr in oberkassel.de veröffentlicht habe. „Die möchte ich unbedingt vorlesen“, erzähle ich meinem Gastgeber, der mir skeptisch über die Schulter blickt und sich vermutlich fragt, ob ich mir noch schnell ein paar Texte von anderen Autoren klaue, damit ich was Vernünftiges zum Vortragen habe. Endlich finde ich sie: „Die schwarze Mamba“ heißt der Titel, was den Gastgeber erst recht beunruhigt – er schickt seine 13jährige Tochter zu den Nachbarn zum Fernsehen: „Du magst doch Jauchs Quizshow so gern.“

Damit hat Michael das Durchschnittsalter meiner Zuhörer wieder rapide angehoben, und ich stecke einige respektlose Geschichten vorsichtshalber in die Aktentasche zurück – man muss das Publikum ja nicht mit Gewalt vergraulen.

Während Michael noch mit seiner Tochter diskutiert, greift ein anderer Gast nach meiner „schwarzen Mamba“. „Interessant“, sagt er mit skeptischem Augenaufschlag, „ist die auch jugendfrei? Ich mag nämlich dieses perverse Zeug nicht“. Heimlich schiebe ich auch noch die Story von der Katze auf dem Dach in die Aktentasche. Damit habe ich bei den 18jährigen immer Erfolge gefeiert, weil die sich noch wünschen, als Katze über die Hausdächer zu schleichen und den Leuten abends in die beleuchteten Fenster zu sehen. Mit wachsendem Alter steigt die Angst, aus dem vierten Stock zu fallen. Bei der letzten Lesung hat mir ein 70jähriger empfohlen, doch von der Geschichte nur noch den Schluss stehen zu lassen und dann das Leben im Rollstuhl zu schildern. „Wir brauchen sozialkritische Stoffe. Nicht so’n Sexzeug, bei dem sich bei keinem mehr was regt.“

Warten auf die Frikadellen

Ein paar Leute stehen noch unschlüssig im Raum herum. Sie blicken verstohlen zum kalten Büfett, trauen sich aber nicht, vor der ersten Leserunde den Frikadellen-Hügel zu erobern. Die meisten, blicken erwartungsvoll auf den riesigen Eichentisch mit dem zierlichen Armsessel dahinter. Vermutlich denken Sie: Da wird er also sitzen, der Typ, dem wir 25 Eier in die Kasse geschüttet haben.

Ich pflege noch etwas Konversation. Wir Schriftsteller von heute sind ja mehr Dichter zum Anfassen. Wir geben uns volksverbunden freundlich. Wer uns fürstlich bezahlt, bekommt von uns jede Geschichte erzählt, auch wenn sie nicht stimmt. Und Starallüren kann man sich in der Mittelklasse ohnehin nicht erlauben.

„Gestern Abend waren wir auf einer Lesung. Es war schrecklich“, erzählt das sympathische Ehepaar, das ich in ein Gespräch verwickelt habe. „Einfach langweilige Geschichten“, sagt er.

„Und lesen konnten die Autoren auch nicht“, sagt sie.

„Es ist ja nicht jedem Dichter gegeben, seine Texte zu lesen“, wende ich zaghaft ein.

„Dann sollten sie lesen lassen“, sagt er.

„Die Veranstalter hätten sich vielleicht vorher erkundigen sollen, was gelesen wird“, sagt sie.

Schutz suchen hinterm Tisch

Mein Gastgeber greift spontan in meine Aktentasche und blättert verstohlen in den Manuskripten. Ich sehe, wie sein Gesicht die Farbe wechselt, lasse mir aber nichts anmerken. Um davon abzulenken, zeige ich Verständnis: „Hoffentlich kann ich heute Ihre Erwartungen erfüllen.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagt er.

„Sie haben Klasse“, sagt sie.

Ich gehe durch den Mittelgang zwischen den Stuhlreihen zu dem schweren Eichentisch. Solche Tische haben schon manchen Dichter vor der pöbelnden Entrüstung des Publikums geschützt; zur Seite gekippt kann man sich hinter der Holzplatte prima vor Wurfgeschossen wie leeren Lambrusco-Flaschen und halbleeren Coladosen in Sicherheit bringen und muss den Vortrag nicht frühzeitig beenden.

„Herzlich willkommen!“ Ich lächele mein Publikum an, ganz besonders das Ehepaar, daß am Vorabend so schlechte Erfahrungen gemacht hat. Der Fotograf hat seine ganze Lampenbatterie auf meinen Sitzplatz gerichtet. Vermutlich will er damit einem Kunden aus der Werbebranche zeigen, wie gut er für teure Fotoproduktionen ausgestattet ist. Ich komme mir vor wie in einem Brutkasten. 

Publikum amüsiert sich

Zum Aufwärmen lese ich eine Geschichte über das Verkaufen von Büchern und darüber, wie meine Freunde auf meine Bücher reagieren. Es macht nichts, daß ich in der Story über meine Freunde herziehe und erzähle, wie mies sie sich mir gegenüber benehmen. Sie kommen ja sowieso nie zu meinen Lesungen. Mein Publikum amüsiert sich köstlich. Nur der Mann und die Frau mit dem Horrorerlebnis vom Vorabend blicken zwischen verhaltenen Lachern etwas skeptisch.

Ich verabschiede mich spontan von zwei ernsten Lieblingsszenen aus meinem Mallorca-Roman „Der Sieg der Taube“. Eigentlich wollte ich diese beiden Kapitel unbedingt vorlesen. Aber ich möchte den beiden netten Menschen nicht auch noch diesen Abend verderben. Ist doch richtig mutig von ihnen, es heute noch mal mit Literatur live zu wagen, wo doch Reich-Ranicki in einer Parallelveranstaltung im Fernsehen mit seinem literarischem Quartett musiziert. 

Ich lese noch eine Geschichte über das Buch-Verkaufen. Die kommt immer an, weil sich die meisten Menschen darüber amüsieren, wie blöd sich Schriftsteller anstellen, wenn sie ihre Bücher mal selbst verkaufen wollen. Die Dichter tun immer so, als verkauften sie gute Butter in Goldpapier, dabei essen die Leute am liebsten Margarine. Auf jeden Fall sind die Zuhörer schon richtig locker und husten und räuspern sich ungeniert und so oft es eben geht, und von Zeit zu Zeit wehen auch die ersten Verbesserungsvorschläge zu mir herüber: „Die Betonung hätte er ja auch mal üben können.“

Bestseller von Prominenten

Ich verzichte auf das ganz ernste und ganz lange Kapitel aus „Der Sieg der Taube“, wo sich der Priester und die Kommissarin nicht näher kommen, sondern über Gut und Böse und die Gemeinsamkeiten ihrer Berufe sprechen. Stattdessen entschließe ich mich, vor der Pause noch mal so richtig Gas zu geben und die humoristische Linie konsequent zu fahren. 

„Jetzt lese ich aus einem Bestseller, an dem ich gutes Geld verdiene, den ich aber nicht selbst geschrieben habe“, sage ich. Alle klatschen begeistert. Für die Interpretation dieser freundlichen Geste bleibt mir keine Zeit. Als geschulter Vorleser weiß ich, daß man die aufwogende Sympathie der Zuhörer unbedingt für die nächsten Texte nutzen muss. „Er heißt ‚Ganz Deutschland lacht – die Geschichte der Bundesrepublik im Spiegel ihrer Witze’. Geschrieben haben es meine Freunde Chris Howland, Michael Lentz und Dieter Thoma.“ Alle klatschen wieder. „Ich hatte die Idee zu dem Buchthema, als die Drei vor ein paar Jahren zu mir kamen, weil sie viele Witze gesammelt und sie zwischen zwei Buchdeckeln verpacken wollten.“

Als ich die Namen aufzähle, geht ein Raunen durch den Raum. „Das kenne ich“, flüstert jemand in der letzten Reihe auf einem blauen Ikea-Stuhl, so laut, daß auch ich es ja höre: „Das ist gut. Hoffentlich liest er nur noch daraus vor.“ Alle lachen. Ich auch und sage, daß ich die Spannung noch etwas erhöhen möchte: „Ganz Deutschland gibt es erst nach dem kalten Krieg am Büfett. Kleine Pause.“

Nichte kann auch gut lesen

Während ich aus den Augenwinkeln beobachte, wie das letzte Stück Gemüse-Quiche abgeräumt und die Schüssel mit dem Blumenkohl-Salat ausgeleckt wird und auch das letzte Stück Fladenbrot in einer Jackentasche verschwindet, unterhalte ich mich mit einer netten älteren Dame. Sie erzählt, daß ihre Nichte auch so schöne Geschichten schreibt wie ich. „Ich werde ihr von diesem Abend erzählen“, sagt sie, „das kann die doch auch, vielleicht sogar besser“.

„Vielleicht sollte die Nichte erst mal ein Buch schreiben“, wende ich vorsichtig ein.

„Ach was! Hier sind heute 30 Leute mal 25 Mark. Macht 750 für das bisschen Lesen. Warum sollte die denn noch ein Buch schreiben, wenn sie so schnell mit Vorlesen Geld verdienen kann?!“

Ich beobachte, daß gerade das letzte Stück Camembert gegessen wird. Auch von dem Rosé scheint nichts mehr übrig geblieben zu sein. Enttäuscht setze ich mich wieder in meinen Dichtersessel.

„Jetzt aber Witze“, ruft es aus der zweiten Reihe. Ich nehme mir vor, den Spießer zu ärgern, dem ich meine „schwarze Mamba“ nicht vorlesen darf. Ich erzähle den Witz mit den italienischen Schuhen, der Lieblingswitz von meinem Freund Michael.

Ein ganz besonderer Witz

Ein Mann hat sich ein Paar sehr auffällige italienische Schuhe gekauft: weißes Leder mit schwarzen Lackkappen. Um seine Frau zu überraschen, hat er sie nach der Anprobe im Geschäft sofort anbehalten. 

Als der Mann nach Hause kommt, sitzt die Ehefrau vorm Fernseher, isst Kartoffelchips, trinkt eine Flasche Bier. »N’ Abend, Schnullermaus«, sagt der Mann. »N’ Abend, Alter«, antwortet die Frau, ohne ihn anzusehen. 

Er zögert einen Moment, dann fährt er fort: »Kannst du mich vielleicht mal ’n Augenblick angucken?« 

Sie dreht ihm den Kopf zu, betrachtet den Mann von oben bis unten und wendet sich wieder ab. »Fällt dir an mir nichts auf?« fragt er irritiert. 

Sie hebt die Schultern, konzentriert sich auf den Bildschirm und meint: »Du siehst müde aus, wie immer. Wirst dir wohl gleich die Bratkartoffeln aufwärmen, ‘ne Pulle Bier trinken und ins Bett gehen. Wie immer.« 

»Oh, warte«, denkt der Mann, »das kriegst du wieder.« Er geht ins Schlafzimmer, zieht sich bis auf die neuen Schuhe aus und kehrt splitternackt ins Wohnzimmer zurück. Wieder baut er sich vor ihr auf, wieder beachtet sie ihn nicht, und wieder sagt er: »Kannst du mich vielleicht mal ’n Augenblick angucken, Schnullermaus?« 

Die Frau knuspert an einem Kartoffelchip, trinkt Bier und mustert ihren Mann von oben bis unten. 

»Na?« fragt er, »fällt dir an mir immer noch nichts auf?« 

»Was soll mir an dir schon auffallen?« sagt die Frau gelangweilt. »Er hängt. Wie immer!« 

»Ja, ja«, reagiert der Mann aufgebracht, »er schaut sich nämlich meine neuen italienischen Schuhe an.« 

Daraufhin sagt die Frau: »Na, da hätteste dir aber besser ’n neuen Hut gekauft.«

Witz mit doppelten Pointen

Alle lachen wie erwartet in zwei Lachsalven wegen der doppelten Pointen. „Vielleicht möchten Sie zwischendurch auch ein Kapitel aus meinem neuen Roman ‚Der Sieg der Taube’ hören“, frage ich vorsichtig. Die Blicke der Zuschauer wandern interessiert zur Wand an meiner linken Seite. Da hängen die Bilder meines Gastgebers. Sehr schöne Portraits. Auf jedem Foto sind zwei Menschen zu sehen, die sich in der Fernsehsendung „B. trifft“ begegnet sind. Bettina, die Moderatorin, und Michael, der Fotograf, haben daraus sogar ein tolles Buch gemacht. Vielleicht hätte Michael lieber aus seinem eigenen Buch vorlesen sollen.

Ich greife trotzdem nach meinem neuen Roman. Er hat einen sehr auffallenden, roten Umschlag, und sofort wird das Räuspern und Husten und schwere Atmen, das vollkommen verschwunden war, während ich die Witze vorlas, wieder lauter.

Vom Ende einer Lesung

„Na gut“, sage ich, „dann vielleicht eine Geschichte von einem Schriftsteller, der erzählt, wie es ihm während einer Lesung ergeht“.

„Wenn sie lustig ist, gerne“, sagt die alte Dame, die mit der Enkelin.

Ich lese. Und während ich lese, vergesse ich mein Publikum und denke nicht mehr daran, daß ich eigentlich ja Lieblingsszenen aus meinem neuen Roman vorlesen wollte. Als ich den letzten Satz vorgelesen habe, blicke ich auf. Der Raum ist leer, bis auf die alte Dame in der ersten Reihe: „Ich soll Ihnen von Ihrem Gastgeber sagen, daß er im Prinzinger auf sie wartet. Er gibt ein Bier aus.“

„Was machen Sie denn noch hier“, frage ich.

„Ach wissen Sie, junger Mann“, sagt sie, „ich würde gern erfahren, wie man sich als Autor fühlt, wenn ein Tag so mies zu Ende geht“.

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(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de

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