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Es hat sich nichts geändert: Ossis und Wessis sind noch immer kein vereintes Volk

Zum 20-jährigen Bestehen der Wiedervereinigung habe ich 2009 mit meinen (inzwischen leider verstorbenen) Kollegen Dieter Thoma (ehemaliger Chefredakteur des WDR) und Chris Howland (Entertainer und Autor) ein Buch zum Thema gemacht: „Vereint lachen. Das große Witzebuch zur Wiedervereinigung“ vereinte unterhaltsame Betrachtungen und thematisch passende Witze zu einem längst fälligen Beitrag zur „Völkerverständigung“.

Der Zorn der Ossis

In dieser Woche, 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist diese gesamtdeutsche Welt noch immer in Unordnung. „Es hat auch damit zu tun, dass vermehrt ostdeutsche Stimmen zu hören sind, die in einem zornigen Ton den Westen, seinen Umgang mit dem Osten und eigene Diskriminierungserfahrungen anprangern“, heißt es in dieser Woche auf der Website für die ARD-Reportage „Hört uns zu“.

Der Zorn sei offenbar nicht nur dem Wunsch geschuldet, vom Westen gehört und besser verstanden zu werden. Er könnte auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins und einer ausgeprägten Ostidentität sein.

Ein spürbarer Unmut

 Die Journalistin Jessy Wellmer, im mecklenburgischen Güstrow geboren und aufgewachsen, begab sich für ihre Reportage „Hört uns zu!“ auf eine Reise durch Deutschlands Osten, „um die Ursprünge dieses gesteigerten Selbstbewusstseins, der vertieften Identität und des spürbaren Unmuts zu erforschen“. 

Im Mittelpunkt stand für die Reporterin die Frage, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf das Zusammenwachsen und Zusammenleben der beiden Teile Deutschlands haben.

Wutrede vom Literatur-Prof.

In einem von Wellmers Interviews kam auch der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann zu Wort. Über seine Streitschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ schrieb DPA, die Deutsche Presseagentur: „Tatsächlich ist sein Buch eine Wutrede aus ‚dem Osten‘ über ‚den Westen‘“. 

Diese Pauschalisierung nutze Oschmann – so die DPA-Autorin Verena Schmitt-Roschmann – bewusst. Originalton Oschmann: „Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise, damit etwas klar erkannt werden kann, was sonst bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt“.

Zynisch und selbstgerecht

Zentrale These Oschmann sei es, so DPA, dass der Westen seit der deutschen Vereinigung 1990 den Diskurs beherrscht, sich selbst als Norm setzt und den Osten als Abweichung verunglimpft. „Zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht“, wie Oschmann schreibt, „der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder loswird.“

Wie vor zehn Jahren

In unserem Buch „Vereint lachen“ habe ich mich vor zehn Jahren ebenfalls in einer Betrachtung mit dem Thema unter dem Titel „Wir sind ein Volk!“ – „Wir auch!“ befasst.

Wie sich die (Wort-)Bilder doch gleichen, wenn man außer Acht lässt, dass ich in aller Kürze und mit Humor und Oschmann in ganzer Breite und voller berechtigter Wut das Thema behandelt haben. Hier gibt es meinen kompletten Text:

Vor zehn Jahren geschrieben – und immer noch aktuell: Betrachtung aus meinem Buch „Vereint lachen!“ unter dem Titel: „Wir sind ein Volk!“ – „Wir auch!“

Wir sind ein Volk! Sind wir ein Volk?

Für kurze Zeit ist die Stimmung genau so – damals, im Herbst 1989, und rund um den 9. November, den Tag des Mauerfalls. Damals fühlen wir uns alle sehr wie ein Volk – oder etwa nicht?

Sagt ein Ossi zum Wessi: »Wir sind ein Volk!« 

Sagt der Wessi zum Ossi: »Wir auch!«

Dieser Witz ist eine Reaktion der Westdeutschen auf das sich steigernde Selbst- und Sendungsbewusstsein der Ostdeutschen, die mehr und mehr die Ehre der Wiedervereinigung für sich reklamieren, während die Westdeutschen immer stärker das Gefühl haben, allein die Last dieses Zusammenschlusses zu tragen und die Einheit finanzieren zu müssen. Dementsprechend schlecht kommen die Wessis dann auch in den Witzen weg.

Der neue Abteilungsleiter aus dem Westen sitzt erstmals in seinem Büro in Dresden. Da kommt der Betriebshandwerker rein. Demonstrativ greift der Westdeutsche zum Telefonhörer: »Aber ja, Herr Direktor, das Problem ist längst in Angriff genommen. Ich kläre das. Sie können sich auf mich verlassen. Ja, tschüüüüs, Herr Direktor.«

Er legt auf und wendet sich triumphierend an den Betriebshandwerker: »Und, was kann ich für Sie tun?« 

»Gar nichts, ich soll bloß Ihr Telefon anschließen.«

Die Ostdeutschen bringen viel Land, Industrieanlagen und darüber hinaus viel Engagement für den Aufbau ihrer Zukunft mit in die Staatenehe. Das wird genau so gerne übersehen wie der massive Profit, den der Westen Deutschlands aus dem neuen Markt Ostdeutschland schlägt. Plötzlich gibt es im Osten statt der in der DDR üblichen Dederon-Beutel nur noch Aldi-Einkaufstüten.

Als Erich Honecker stirbt, kommt er an das Tor zur Hölle. Dort fragt ihn der Pförtnerteufel, in welche der beiden Höllen er wolle: in die sozialistische Hölle oder in die kapitalistische.

Erich fragt mutig: »Worin liegt denn der Unterschied?« Darauf der Teufel: »Also in der kapitalistischen Hölle wirst du auf ein Nagelbrett gelegt und unter einer Dampfwalze durchgeschoben …«

Erich darauf ziemlich blass: »Und in der sozialistischen Hölle?«

Der Teufel: »Das ist jetzt ein wenig komplizierter … Entweder die Nägel sind da und die Bretter fehlen, oder die Bretter sind da und die Nägel fehlen. Wenn beides da ist, dann ist sicher die Dampfwalze kaputt. Sollte mal alles stimmen, also Nägel und Bretter da sein und die Walze funktionieren, dann haben wir Parteiversammlung, um die Übererfüllung der Pläne zu beraten.«

Die Zeiten ändern sich –, und das nicht erst mit den globalen Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre. Mit einem Mal werden den Deutschen Jacke und Hemd wichtiger als gesellschaftliche Entwicklungen oder gar das Zusammenwachsen von Ost und West. Und eines Tages fragt man auch: Wieso sind wir eigentlich ein Volk?

Begonnen wurde damit angeblich während der Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989. Aus dieser Zeit wird überliefert, dass die Menschen die Sätze wie »Wir sind das Volk« und »Wir sind ein Volk« wie Schlachtrufe benutzten. Die Frage nach der Urheberschaft dieser bedeutungsschweren wie geschichtsträchtigen Worte stiftet inzwischen viel Verwirrung.

Der ZDF-Historiker Guido Knopp ist überzeugt, dass »Wir sind ein Volk« erstmals am 20. November bei einer Demonstration in Leipzig gerufen wurde. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Angelika Pfeiffer will diesen Satz aber schon seit September 1989 den Demonstranten zugerufen haben. Dagegen steht die Meinung des Autors Bernd Lindner, der über den Herbst 1989 einige Bücher geschrieben hat und bei den Leipziger Demos dabei war: »Dafür gibt es keinen Beleg.« 

Es gibt aber ein am 9. Oktober in Leipzig verteiltes Flugblatt des Arbeitskreises Gerechtigkeit, der Arbeitsgruppe Menschenrechte und der Arbeitsgruppe Umweltschutz mit folgendem Wortlaut: »Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden.«

Belege und Hinweise, wer wann den entscheidenden Satz gesagt haben soll oder will, gibt es über die genannten hinaus eine ganze Reihe. Es ist nicht die Aufgabe dieses Buches, über die Urheberschaft Recht zu sprechen. Wohl aber möchte es fragen: Was bedeuten diese Sätze? 

Bild titelte am 11. November 1989 hintergründig: »Wir sind das Volk‹, rufen sie heute –, ›Wir sind ein Volk‹, rufen sie morgen!«

Was bedeutet der Satz »Wir sind das Volk«? Wohl dieses: Das Volk in der DDR will endlich auch gefragt werden – ob es reisen möchte, ob die Mauer zwischen den deutschen Staaten stehen bleiben soll, ob es die Stasi und die Meinungsfreiheit will. Wir sind das Volk, liebe DDR-Regierung, hört endlich auf uns, richtet euch nach unserem Willen und macht nicht länger mit uns, was ihr wollt. Wir sind das Volk – das war ein Schlachtruf gegen die Unterdrückung. 

»Wir sind ein Volk« nimmt hingegen schon Bezug auf die Wiedervereinigung: Deutsche im Osten und im Westen sind ein Volk. Eine deutliche Akzentverschiebung.

Die Mauer ist gefallen, während der Slogan Karriere machte. Und? Sind wir ein Volk geworden? Manche Menschen, vorrangig aus dem Osten, sagen, dass vor der Wiedervereinigung alles besser war. Das spiegeln Witze wie dieser:

Vor der Wende kommt ein westdeutscher Arbeiter in die DDR und diskutiert mit einem ostdeutschen Arbeiter über die persönliche Freiheit. Er meint: »Ich kann mich vor Kohl hinstellen und ihm einen Vogel zeigen. Kannst du das auch?«

Ostdeutscher: »Da würde ich vielleicht Probleme bekommen. Aber kannst du in deinem Betrieb die Frühstückspause um eine halbe Stunde verlängern und Karten spielen?«

Westdeutscher: »Nein, dann fliege ich raus.« 

Ostdeutscher: »Wenn ich mittags nach dem Essen keine Lust habe, lege ich mich eine Stunde aufs Ohr. Kannst du das auch in deinem Betrieb?«

Westdeutscher: »Nein, dann fliege ich raus.«

Ostdeutscher: »Wenn ich nachmittags einkaufen will, verlasse ich den Betrieb eine halbe Stunde eher. Kannst du das in deinem Betrieb auch?«

Westdeutscher: »Nein, dann fliege ich raus.« 

Ostdeutscher: »Warum soll ich mich dann vor Honecker hinstellen und ihm einen Vogel zeigen?«

Pünktlich zum 20-Jährigen des Mauerfalls legt die Bundesregierung einen Jahresbericht zum Stand der Einheit vor. Noch immer trennt der Arbeitsmarkt neue und alte Bundesländer. Die Beschäftigungslosigkeit ist im Osten mit über 12 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Zwei Millionen Ostdeutsche haben ihre Heimat verlassen, vorwiegend die Jungen ziehen weg. Doch es gibt auch einigendes: Immer mehr Menschen machen Urlaub im Osten. Wirtschaftsbranchen wie die Solarenergie oder die Automobilindustrie boomen in den neuen Bundesländern.

In der Schule wird gefragt, ob die Kinder den Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus kennen. Kein Kind meldet sich, da zeigt der Lehrer durchs Fenster hinaus zur Bushaltestelle und sagt: »Im Sozialismus fahren alle gemeinsam Bus, während im Kapitalismus nur einer Auto fährt. Habt ihr das auch alle verstanden. Na, wie war das Fritzchen?«

Fritzchen schaut zum Fenster raus, sieht eine alte Großmutter mit Gehstock und sagt: »Im Kapitalismus geht nur einer am Stock, während im Sozialismus bald alle am Stock gehen.«

Ein Ostdeutscher spricht beim Einwohnermeldeamt in Düsseldorf vor, um sich anzumelden und seinen Personalausweis zu beantragen. Nachdem der Beamte die Personalien aufgenommen hat, sagt er: »So, jetzt brauche ich für die Statistik nur noch den Grund für Ihre Umsiedelung – haben Sie Verwandte hier?«

»Nee.«

»Hatten Sie wirtschaftliche Probleme?«

»Ooch nisch, wirtschoftlisch gings mer ooch gud.« 

»Ja, warum sind Sie denn aus dem Osten weggegangen?«

»Isch gonnd’ de Sproche nisch mer hörn …«

Wir sind ein Volk. Ja, wir sind noch immer ein Volk. Aber nach der anfänglichen Euphorie über die Wiedervereinigung macht sich Resignation breit.

Kunde zum Friseur im Osten: »Das Rasieren bei Ihnen kostet seit der Wende ja deutlich mehr.«

Friseur: »Na klar, die Gesichter sind ja auch länger geworden«

Ende 2008 befragt das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag von RTL die Bundesbürger, ob die Ostdeutschen und Westdeutschen zu einem Volk zusammengewachsen seien. 

»Ja«, antworten 36 Prozent, »Nein« sagen 61 Prozent; 3 Prozent der Befragten haben keine Meinung.

Wir sind das Volk – aber wir sind noch immer nicht ein Volk. Wie gesagt:

»Wir sind ein Volk!« 

»Wir auch!«

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Foto: Jamin

(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de

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