Heute, am 25. Mai, am „Internationalen Tag der vermissten Kinder“, denke ich besonders an drei Kinder und ihre Eltern: zwei sechsjährige Jungen und ein achtjähriges Mädchen. Der eine Junge heißt Etan Patz und verschwand am 25. Mai 1979 spurlos in New York. US-Präsident Ronald Reagan wählte diesen Tag zum Gedenken an Etan, der auf dem Weg zur Schule verschwand und dessen Schicksal jahrzehntelang ungeklärt blieb. Erst vor wenigen Jahren wurde ein Mann wegen der Ermordung des Kindes verurteilt.
Debbie aus Düsseldorf nie gefunden
Der zweite Junge, Arian, verschwand am 22. April dieses Jahres in Bremervörde-Elm aus seinem Elternhaus und wurde bis heute nicht gefunden. Trotz intensiver Suchaktionen von Polizei, Feuerwehr, Bundeswehr und anderen Hilfskräften in der ersten Woche nach seinem Verschwinden blieb er unauffindbar.
Das Mädchen, an das ich heute denke, heißt Deborah „Debbie“ Sassen. Sie verschwand 1996 in Düsseldorf auf dem Heimweg von der Schule spurlos und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Ich kenne die Angehörigen des Mädchens aus etlichen Gesprächen und sie haben mir das immense Leid vermittelt, das Eltern und Verwandte von vermissten Kindern vom ersten Tag des Verschwindens an – und manchmal lebenslänglich – ertragen müssen.
Der Schmerz der Eltern endet nie
Heute, am 25. Mai, ist der „Internationale Tag der vermissten Kinder“. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um dazu aufzurufen, sich mehr um die Eltern dieser vermissten Kinder (wie auch um die Angehörigen aller Vermissten) zu kümmern. Viele Suchaktionen nach den Kindern werden nach kurzer Zeit eingestellt, und die Eltern bleiben in ihrem Schmerz und ihrer Ungewissheit allein zurück. Der seelische Schmerz, der die Eltern, Geschwister und andere Angehörige mit dem Verschwinden eines Kindes befällt, ist unermesslich und unendlich.
Die Ungewissheit ist eine Höllenqual
Die Angehörigen fragen sich immer wieder, ob sie zum Verschwinden des Kindes beigetragen haben, ob sie etwas falsch gemacht haben, ob das Kind noch lebt, ob es schwer verletzt oder gestorben ist, ob es entführt und eingekerkert wurde. Diese Ungewissheit ist eine Höllenqual, die viele Menschen radikal aus ihrer Lebensbahn wirft: Alkoholismus, Medikamentensucht, Arbeitslosigkeit, Wohnortwechsel, Scheidungen und Suizide sind oft die Folge.
Heute auch an die Angehörigen denken
Deshalb müssen wir am „Internationalen Tag der vermissten Kinder“ nicht nur an die Verschwundenen, sondern vor allem auch an die Angehörigen denken. Sie sind ebenfalls Opfer. Sie werden, solange das Kind verschwunden ist, nie mehr zur Ruhe kommen, nie mehr friedlich schlafen und keine sorgenfreie Zukunft haben.
Jeder, der helfen will, sollte die Angehörigen unterstützen. Denn der Staat lässt die Eltern in der Regel alleine. Wenn ein kleines Kind verschwindet, ist die staatliche Hilfe, insbesondere die Unterstützung durch die Polizei, zunächst sehr groß. Doch Seelsorger und Psychologen, die oft auf Empfehlung der Polizei die Eltern in der Anfangsphase betreuen, wenden sich nach einiger Zeit anderen Themen und Opfern in unserer Gesellschaft zu. Die Eltern bleiben alleine zurück, allein mit ihrer Ungewissheit. Das ist der Horror.
Nur Emdens Stadtverwaltung berät Angehörige
In ganz Deutschland gibt es nur eine einzige kommunale Beratungsstelle für Angehörige von Vermissten – und zwar in Emden. Dort unterstützt und berät ein Mitarbeiter der Stadt gemeinsam mit ehrenamtlichen Mitgliedern der Initiative „VerNie – Vermisst in Niedersachsen“ Angehörige.
Solche Beratungsstellen müsste es in allen Stadt- und Gemeindeverwaltungen geben. Aber nirgendwo außer in Emden hängt an einer Amtsstube ein Schild mit dem Aufdruck: „Wir helfen Angehörigen von Vermissten.“ Ein Skandal für unseren Sozialstaat.
Bewusstsein der Bevölkerung vertiefen
Der „Internationale Tag der vermissten Kinder“ wurde eingeführt, um das Bewusstsein der Menschen für das Thema „Vermisste Kinder“ und die Probleme ihrer Angehörigen zu schärfen und auf die tragischen Fälle aufmerksam zu machen. Er verfolgt mehrere wichtige Ziele:
1. **Gedenken an vermisste Kinder**
An diesem Tag wird der vermissten Kinder gedacht und Anteilnahme für die betroffenen Familien gezeigt. Es soll daran erinnern, dass viele Fälle noch ungeklärt sind.
2. **Sensibilisierung der Öffentlichkeit**
Durch Aktionen und Berichterstattung soll eine breite Öffentlichkeit für das Problem verschwundener Kinder sensibilisiert werden. Je mehr Menschen aufmerksam sind, desto eher können Hinweise gesammelt werden.
3. **Vorbeugung und Sicherheitsmaßnahmen**
Der Aktionstag macht auf Präventionsmaßnahmen gegen Kindesentführungen und andere Straftaten aufmerksam und fördert mehr Sicherheit. Eltern und Kinder sollen für Gefahren sensibilisiert werden.
4. **Internationale Zusammenarbeit**
Da Kinder auch über Grenzen hinweg vermisst werden, ist eine internationale Vernetzung der Behörden und eine Kooperation bei der Suche notwendig.
Was Eltern ihren Kindern raten können
Es gibt einige wichtige Maßnahmen, um Kinder vor dem Verschwinden zu schützen:
1. **Aufklärung und Bewusstseinsbildung**
Kinder sollten frühzeitig über mögliche Gefahrensituationen aufgeklärt werden, ohne sie zu verängstigen. Eltern sollten mit ihnen Verhaltensregeln besprechen.
2. **Sicherheitsregeln**
Kinder sollten grundlegende Sicherheitsregeln kennen, wie niemals mit Fremden mitzugehen, niemandem die Haustür zu öffnen, wenn man alleine ist, und keine persönlichen Daten im Internet preiszugeben.
3. **Erreichbarkeit der Eltern**
Kinder müssen immer wissen, wie sie ihre Eltern erreichen können. Handynummern und Notfallkontakte sollten im Gepäck der Kinder oder in ihrer Kleidung vermerkt sein.
4. **Fremde Orte meiden**
Kinder sollten möglichst keine abgelegenen, öffentlichen Orte alleine aufsuchen. Eltern sollten die Schulwege kleiner Kinder festlegen und erkunden und die Kinder auf Orte hinweisen, wo sie unterwegs eventuell Hilfe erhalten können: beim Bäcker, Friseur oder in einem Kiosk.
5. **Kontrolle persönlicher Daten**
Persönliche Daten und Bilder von Kindern sollten nicht unbedacht online verbreitet werden. Täter können diese auswerten.
6. **Vorsicht bei Online-Kontakten**
Die Nutzung von Chats und Spielen sollten von den Eltern überwacht werden. Fremde Kontaktaufnahmen sind gefährlich.
7. **Sofortige Alarmierung**
Wenn ein kleines Kind vermisst wird, muss sofort die Polizei verständigt werden. Jede Minute zählt.
Jedes Jahr mehr als 125.000 Vermisste
Wie wichtig es ist, sich um eine bessere soziale Versorgung der Angehörigen von Vermissten zu kümmern und das Thema der vermissten Kinder ernster zu nehmen, zeigt die letzte Statistik des Bundeskriminalamtes.
Im Jahr 2022, der bislang letzten jährlichen Datensammlung, wurden mehr als 125.000 Erwachsene, Kinder und Jugendliche bei den örtlichen Polizeidienststellen als vermisst registriert.
Die meisten Verschwundenen kommen innerhalb eines Jahres wieder oder werden tot aufgefunden. Aber drei Prozent, also mehr als 3750 Erwachsene, Kinder und Jugendliche, bleiben sogenannte Langzeitvermisste – sie bleiben länger als ein Jahr oder für immer verschwunden.
Unter den 125.000 Vermissten im Jahr 2022 waren …
… 16.600 Kinder im Alter bis einschließlich 13 Jahre,
… 76.700 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahre und
… 2800 ausländische Flüchtlinge im Alter bis 17 Jahre.
Ähnliche Zahlen werden auch für die kommenden Jahre zu erwarten sein. Und um die Probleme der Kinder und Jugendlichen und ihrer Angehörigen kümmert sich auch in Zukunft so gut wie niemand. Denn in Deutschland ist nur die Polizei für Vermisstenfälle zuständig, obwohl diese eigentlich in erster Linie Kriminalität bekämpfen und die öffentliche Ordnung aufrecht halten soll.
Für Sozialarbeit, die bei vielen Vermisstenfällen dringend notwendig ist, bleibt da keine Zeit. Zumal die Polizisten, bis auf wenige Opferberater, nicht dafür ausgebildet sind.
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Foto Arian + Jamin: Express
Fotoporträt Jamin: Jörg Haas http://peoplefactor.de
(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de)