Was passiert im Krieg? Vor allem an der Front? Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon fast ein Jahr. In vielen Berichten informieren Journalisten aus den Kriegsgebieten. Über Zerstörungen, Hungersnot, Stromausfälle und viele andere Katastrophen.
Nur über die schlimmsten Situationen erfahren wir recht wenig: Was passiert in den Schützengräben? Beim Häuserkampf Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, Ukrainer gegen Russen? Dort, wo tausendfach Menschen sterben, dürfen sich Kriegsreporter in der Regel nicht aufhalten.
NZZ zitiert russischen Reporter
Die Schweizer Tageszeitung NZZ zitierte in dieser Woche, am 11. Januar 2023, aus dem „eindrücklichen Augenzeugenbericht über die Kämpfe in der Ostukraine“ des russischen Kriegsreporters Alexander Chartschenko. Originalzitat: „Am Morgen begann der Kampf. Unsere Jungs gingen voran und konnten einige Keller einnehmen. Das muss man sich ungefähr so vorstellen: Sturmgruppen besammeln sich heimlich – und auf Befehl greifen sie schliesslich an.
Dann folgt stundenlanger Feuerhagel auf kurze Distanz, Granaten fliegen in die Lüftungsrohre der Keller. (…) Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn durch eine nahe Explosion die Dreckklumpen auf die Kellerdecke fallen. Uns blieb nur noch, uns zu bekreuzigen.“ So weit der Text des russischen Kriegsreporters Chartschenko. Er erinnert mich stark an das Kriegstagebuch der Journalismus-Ikone Egon Erwin Kisch.
Rasender Reporter im Krieg
Diesen Krieg an der Front, gestern wie heute von extremer Brutalität, hat Egon Erwin Kisch aus der Sicht eines Soldaten beschrieben. Er war im 1. Weltkrieg in vorderster Front dabei. Am Sterben im Krieg hat sich seitdem nichts geändert. Was Kisch damals beschrieb, erleben die russischen und ukrainischen Soldat*innen heute in ähnlicher Grausamkeit.
Kisch gilt für die deutschen Journalismus als einer der begabtesten Reporter aller Zeiten. Das Magazin „Stern“ benannte viele Jahre seinen berühmten Journalisten-Preis nach ihm. In seinem Buch „Schreib das auf, Kisch! Ein Kriegstagebuch“ berichtete der 1948 verstorbene Autor aus seinem Leben als Soldat. In den Pausen, wenn die Gewehre und Geschütze schwiegen, schrieb er seine Texte. Hier folgt ein Originalauszug aus dem Buch:
Kisch als Kriegsberichterstatter:
Brodac Donji, 10. September 1914
„Bis zu dem Worte »Flügel« hatte ich vorgestern geschrieben. Den größten Teil auf Rasten des Marsches, die letzten Sätze habe ich in der Feuerlinie zu stenographieren versucht. Meine Nachbarn schraubten ihre Blicke in das Vorterrain, auch ich schaute, nach jedem notierten Worte nervös zusammenzuckend, ängstlich lauernd in die feindliche Richtung.
Um uns pfiffen silberne Linien, jeden Augenblick schlug eines der einander jagenden Geschosse in den kleinen Erdhügel, den man sich mit der Hand als Brustwehr aufgeschichtet hatte, fast jedem hat sein Brotsack, den er sich vor den Kopf geschoben hatte, das Leben gerettet. Die Brotbeutel tragen Löcher in ihrem Leib, ein Projektil steckt in der Winterwäsche, die man vorgestern darin aufbewahrte, ein anderes prallte von der vollen Konservenbüchse ab.
Letzte drei Sätze geschrieben
Wie langsam, wie mühselig, in welch gefährlicher Situation ich vorgestern die drei letzten Sätze geschrieben habe! Es war mir und es ist mir, als ob ich den Höhepunkt grausamen menschlichen Erlebens niederschreiben müßte. Seit ich vorgestern nachmittags mein Geschreibe unterbrechen mußte, als ein Artilleriegeschoß hart über meinen Kopf hinwegsauste und den Stamm eines Baumes hinter mir fällte, sind zwei Tage vergangen.
Zwei Tage, deren Folter uns noch in Gliedern und Nerven steckt. Also: um halb elf Uhr vormittags lag unser Regiment in der Deckung am österreichischen Ufer der Drina. Nun kam unsere Kompanie an die Reihe, in den Pontons übergesetzt zu werden. Nachdem Partien zu zwanzig Mann abgezählt worden waren, kommandierte der Oberleutnant »auf!« und rannte über die Böschung zum Fluß.
Zerfetzendes Wimmern
Die Kompanie zögernd hinter ihm drein, denn als unsere Figuren auftauchten, verstärkte sich der Schwarm feindlicher Geschosse, die bisher über die Böschung gezischt hatten, ins Ungemessene. Wir spürten, wie sie an unseren Ohren vorüberflogen. Einige unserer Leute zogen sich hinter die Deckung zurück, als sie die langen Spießruten prasseln fühlten, aber ein drohendes Kommando jagte sie wieder vorwärts.
Unser Oberleutnant sprang in das Boot, das Pioniere lenkten. Nur etwa zehn Leute von den zwanzig, die abgezählt worden waren, nahmen darin Platz. Wir legten uns platt auf den Boden, damit uns die metallene Pontonwand Deckung sei. Ungeheures, zerfetzendes Wimmern, Brüllen war hörbar.
Verwundete schrien nach Hilfe
Ich lugte über den Bootsrand und sah am serbischen Ufer Hunderte unserer Soldaten, die den Lärm vollführten. Bis an die Knie, bis an die Schenkel, bis an den Bauch standen sie im Wasser, stießen die Hände in die Höhe und kreischten einen einzigen endlosen Schrei, Tobsüchtigen gleich. Nichts fühlte ich als ein würgendes Nichtverstehen dieses Hexensabbats.
Nur ein Gedanke: jetzt gondelst du selbst hinüber in das gleiche Verderben, um in wenigen Minuten – diesen dort gleich – als Vertierter, Verkrüppelter und Flehender an der gleichen Stelle zu stehen. Es waren die Verwundeten. Sie schrien nach ärztlicher Hilfe und nach ihrem Abtransport.
Hügel erbrachen Verwundete
Die Hügel und Wälder, die die Ufersandbahn einsäumten, erbrachen immerfort Verwundete und Leute, die sie stützten – jene im Kriege auftauchende Art von barmherzigen Samaritern, die den Verwundeten zum Verbandplatze helfen, um nicht selbst mit der Schwarmlinie vorrücken zu müssen. Obwohl schon mindestens zehn Minuten vergangen waren, seitdem wir abgestoßen hatten, waren kaum zwanzig Meter zurückgelegt.
Die Pioniere hatten fast gar nicht gerudert. »Sollen wir weiter vorwärts rudern?« fragte der Zugführer der Pioniere. »Selbstverständlich!« rief der Oberleutnant, »Sie haben doch den Befehl.« »Nun ja, aber …« »Das sind ja nur Verwundete«, beruhigte einer von uns den Gondoliere, der jedenfalls in seiner Angst die Szene drüben als einen Rückzug ansah und das sofortige Erscheinen verfolgender Serben befürchtete.
Das rettende Boot umlagert
Resigniert stieß der Pionier das Ruder nach vorne, aber seine beiden Gehilfen machten an den rückwärtigen Riemen passive Resistenz, und auch jetzt kam die Zille nicht vorwärts. Erst als der Oberleutnant den Revolver zog und ein »wird’s bald!« schrie, ging es näher an das Ufer.
Wir kamen nur auf etwa fünfundzwanzig Schritte heran, denn bis dorthin hatten sich die verwundeten Flüchtlinge in das Wasser gewagt und wollten sich brüllend in den Ponton schwingen, um sich einen Platz für dessen Rückfahrt zu belegen. Wir konnten gar nicht aussteigen, so war das Boot umlagert. Ein Mann ohne Bluse, der nur an den Breeches und Ledergamaschen als Offizier kenntlich war, schrie immerfort: »Ich muß hinüber, ich habe eine wichtige Meldung.«
Bis zur Hüfte im Wasser
»Sie lügen«, schrie ihn jemand an. Da verschwand der Mann in der Richtung eines anderen Pontons. Der anderen, die sich unseres Bootes bemächtigen wollten, konnten wir nicht Herr werden, und wir stiegen aus, nun selbst bis über die Hüften im Wasser watend. Die Strömung war stark, unsere Rüstung war schwer, zehnmal drohte jeder von uns umzusinken, bevor wir endlich den Boden Serbiens betraten.
Dem Befehl des Obersten gemäß wollten wir nach rechts abschwenken, aber Generalmajor Daniel, der mit seinem Generalstabschef Baron Pitreich hier umherlief, beorderte uns zur schleunigen Verstärkung des linken Flügels. Durch einen Verhau gingen wir vorwärts. »Kisch, gehen Sie zurück und führen Sie den übrigen Teil der Kompanie im Laufschritt nach.«
In die Brust geschossen
So eilte ich wieder an das Ufer. Aus allen Pontons stiegen eben 11er aus. Die von der 15. Kompanie nahmen am Ufer Liegestellung an. »Das war bös, das mit dem Herrn Oberst«, sagte mir ein Infanterist, »nicht?«
»Was denn?« »Ja, er ist doch in Ihrer Gegenwart in die Brust geschossen worden.« »In meiner Gegenwart?« »Ja, gerade als Sie mit ihm gesprochen hatten und sich von ihm abwandten, um zur Böschung zu laufen, hat es ihn erwischt.« »Ist er tot?« »Weiß nicht.«“
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Foto: Zerstörter Panzer im Ukraine-Krieg / © Freepik
(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de)