Neues aus Emden. Dort feiert jetzt ein Modellprojekt für ganz Deutschland zweijähriges Bestehen: die „Kontaktstelle für Angehörige von Vermissten“. Die Stadt Emden berät und unterstützt die Angehörigen vermisster Menschen aus der Region, heißt es auf der speziellen Hinweisseite der Kommune im Internet.
Die Kontaktstelle hat Leuchtturmcharakter und ist bundesweit bisher einmalig: „Sie leistet Unterstützung zur Selbsthilfe und gibt erste praktische Tipps sowie die Vermittlung zu bestimmten Fachstellen und Experten. Dieses erfolgt in enger Kooperation mit der örtlichen Polizeidienststelle, dem Vermisstexperten Peter Jamin und dem Verein ‚Vermisst in Niedersachsen – VerNie e.V‘.“
Meine Lieblingsstadt im Norden
Ich war in dieser Woche drei Tage lang in meiner neuen Lieblingsstadt in Ostfriesland. Dort ist neben dem Beratungsservice der Stadt Emden auch der Sitz der Initiative „Vermisst in Niedersachsen – VerNie e. V.“.
Das ist für die Verwandten von Vermissten im Norden Deutschlands ein großes Geschenk. Nur in Emden in Niedersachsen erhalten sie Beachtung, Beratung und intensive Unterstützung. Locker formuliert: ein Full-Service-Package.
Ein Service für Niedersachsen
Im Rest der Republik herrscht dagegen überwiegend totale Leere. Ansonsten gibt es noch in Hamburg die Initiative Vermisste-Kinder.de und in Berlin Anuas.de, eine Hilfsorganisation für Angehörige von Mord-, Tötungs-, Suizid- und Vermisstenfällen.
In einem Interview mit dem Morgenmagazin des Bayerischen Rundfunks, BR2, habe ich u. a. auf die großen Probleme bei der Beratung und Betreuung von Angehörigen von Vermissten hingewiesen. Die komplette Suche, aber auch die soziale Arbeit, wird allein der Polizei überlassen.
Kein Politiker kennt sich aus
Es gibt in Deutschland keinen Politiker und keinen Behördenmitarbeiter außerhalb der Polizei, der sich für die Beratung und Unterstützung der Angehörigen von jährlich mehr als 120.000 Vermissten zuständig fühlt und ihnen mit Sachkenntnissen zur Seite steht.
Das betrifft alle Ebenen von der Bundesregierung und ihren Ministerien bis zu den Landes- und den Kommunalbehörden sowie den jeweiligen Parlamenten. Eine Ausnahme gibt es seit zwei Jahren: In der Stadtverwaltung Emden gibt es ein Leuchtturmprojekt, die ‚Kontaktstelle für Angehörige von Vermissten.
124.000 Vermisste in Deutschland
Anlass für das Gespräch bei BR2 am frühen Mittwochmorgen dieser Woche war der „Internationale Tag der Verschwundenen“. Er wurde in den 1980er-Jahren in Lateinamerika gegründet. Er erinnert an die politischen Gefangenen, die von verbrecherischen Regimen etwa in Chile oder Argentinien ermordet und deren Leichname nie gefunden wurden.
Da es in Europa glücklicherweise solche verbrecherischen Methoden nicht gibt, erinnert man hier an diesem Gedenktag oft nicht nur an politische, sondern auch an die vielen „normalen“ Vermissten. In Deutschland waren das im vergangenen Jahr 2022 immerhin 124.000 Menschen, davon rund 90.000 Kinder und Jugendliche. Rund drei Prozent, fast 4.000 Menschen, bleiben länger als ein Jahr fort.
Lesung mit Emdens #OBKruithoff
Aber zurück nach Emden. Dort fühle ich mich inzwischen durch viele Besuche wegen der Vermisst-Projekte sehr wohl. Dort leben viele sehr sympathische, ausgesprochen engagierte Menschen. Allein voran der Oberbürgermeister der Stadt, Tim Kruithoff.
Ich erinnere mich noch gerne daran, dass ich im Café Henri’s, einem Treffpunkt an der Kunsthalle Emden, vor rund drei Jahre aus meinem neuen Erzählband „Ohne jede Spur. Wahre Geschichten von vermissten Menschen“ gelesen habe. Im Publikum saß auch der Stadtverwaltungschef – und blieb bis zum Ende der Veranstaltung. Eine meiner Lesungen zu besuchen, hat in meiner Lieblingswohnstadt Düsseldorf noch kein/e Politiker*in geschafft.
Kruithoff: Ein Mann, sein Wort
In einem Talk im Anschluss an meine Lesung versprach der OB, offensichtlich von meinen Geschichten beeindruckt, sich dafür einzusetzen, dass es in seiner Stadt eine „Kontaktstelle für Angehörige von vermissten Menschen“ geben sollte – ein Pilotprojekt für ganz Deutschland. Oh Mann, dachte ich damals, seit mehr als zwei Jahrzehnte träume und spreche ich von so einer Maßnahme. Sollte das endlich wahr werden?!
Innerlich war ich ein wenig skeptisch. Politiker sagen im Rausch ihrer Gefühle schon mal etwas, was dann später wegen politischer Umstände oder Irrwege leider nicht einzuhalten ist. Doch bei Tim Kruithoff war das anders: Kruithoff – ein Mann, sein Wort. Wegen Corona dauerten die Vorbereitungen etwas länger. Aber vor zwei Jahren kam aus Emden das Zeichen zum Start des Pilotprojekts.
Wichtiges Leuchtturmprojekt
Seitdem hat die Kontaktstelle mit dem engagierten Leiter @SvenDübbelde gemeinsam mit dem VerNie-Vorsitzenden @WalterBüttner und den anderen ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen von „Vermisst in Niedersachsen“ und der Polizei in Ostfriesland schon etliche Vermisstenfälle bearbeitet.
Sie haben inzwischen einen so guten Ruf, dass sogar die Polizei aus Bremen und Hamburg wegen Unterstützung von Vermisst-Angehörigen angefragt hat. Die „Emder Zeitung“ schrieb am 1. September 2023 begeistert: „Emden mit zwei Projekten bundesweit einzigartig. Seit zwei Jahren fängt die Stadt Angehörige von Vermissten auf – Verein VerNie nimmt Vermittlerrolle ein.“
Polizisten als Sozialarbeiter?
Diese Emder Initiative ist ein ungeheuer bedeutendes Modellprojekt für ganz Deutschland. Denn in den anderen Bundesländern werden die Sorgen der rund 500.000 nahen Angehörigen von Vermissten und von ebenso vielen Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn und Studien- wie Klassenkameraden der Vermissten weitgehend ignoriert.
Die Polizei versucht zwar, soweit es möglich ist, auch soziale Fragen der Angehörigen zu berücksichtigen. Aber die Beamten sind dafür weder ausgebildet noch haben sie wirklich Zeit für diese Sozialarbeit. Schließlich muss sich die Polizei um Kriminalität, Katastrophen und vieles andere kümmern. Aber an welche Minister oder Politiker ich mich in der vergangenen drei Jahrzehnten auch wegen der sozialen Probleme gewandt habe, überall hörte ich: Die Polizei ist zuständig.
Vieler Gründe für Flucht
Und damit bin ich bei den Gründen, die dazu führen, warum Menschen in großer Not und unter großem Druck von einer Stunde zur anderen ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen: von den Krisen in Beziehungen bis zu Schwierigkeiten in Schule, Studium und Beruf.
Liebeskummer, finanzielle Sorgen, Enttäuschungen in einer Freundschaft, Leistungsdruck, Alkoholismus, Drogensucht, Mobbing am Arbeitsplatz, Prüfungsangst, ein gewalttätiger Ehe- oder Lebenspartner, drohende Scheidung, Schulden, Krankheiten wie Demenz.
Gewalt in der Familie
Fälle von Abenteuerlust oder Freiheitsdrang sind selten. Nicht so häufig sind auch die Verbrechen, die zum Verschwinden von Menschen führen – sie machen etwa ein Prozent aller Vermisstenfälle, also etwa 1.400 pro Jahr, aus. Die Gründe für das Verschwinden von Kindern und Jugendlichen werden gerne in Schlagworten erfasst.
Diese sind: Gewalt in der Familie, Entweichen aus Erziehungsheim, Streit in der Familie, Furcht vor Strafe/Schande, Partner- und Liebesprobleme, Schwierigkeiten in Schule oder Ausbildung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Kindesentziehung, Freitod-Absicht, psychische Probleme, Entweichen aus psychiatrischen Kliniken, falsche Erziehung, schulische Schwierigkeiten, Unfälle oder Straftaten.
Menschen unter großem Druck
Alle Probleme von Menschen und Familien, die man sich vorstellen kann, spielen im Hintergrund des Verschwindens von Vermissten eine Rolle. Diese Menschen stehen unter so einem großen Druck, dass sie nicht einmal einen Abschiedsbrief schreiben.
Und die Zurückgebliebenen sitzen dann tage-, wochen-, monate- oder gar jahrelang an ihren Küchentisch und fragen sich: Bin ich schuld? Ist der geliebte Mensch ermordet worden, nach einem Unfall verstorben oder freiwillig fort?
Hier spenden für VerNie e. V.
Ich bin sicher, ich werde heute nicht die letzte Kolumne zu den Emder Vermisst-Projekten geschrieben haben. Im nächsten Jahr feiert VerNie.org ihr zehnjähriges Bestehen. Wer die Ehrenamtler von VerNie jetzt gerne durch eine Spende unterstützen möchte: Bei „BetterPlace“ kann das ohne große Umstände gemacht werden.
Spätesten im August 2024 zur Jubiläumsfeier werde ich in Emden wieder vorbeischauen. Emden ist zu meiner neuen Lieblingsstadt geworden, in der ich eine zweite Heimat gefunden habe. Düsseldorf bleibt noch (zumindest vorläufig) meine Lieblingswohnstadt.
Foto: Jamin / Screenshot des Spendenaufrufs bei BetterPlace für VerNie e.V.
#Düsseldorf #jaminautor #BlogAufEinenCappuccino #StadtEmden #VerNie #Vermisste #EmderZeitung #betterplace
(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de)