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Offener Brief an Alice Schwarzer

Guten Tag, Frau Schwarzer. Ich habe Sie viele Jahrzehnte lang für eine herausragende, engagierte Feministin gehalten. Für eine Frau, die sich für Frauen und Mädchen bedingungslos einsetzt. Ich bin vermutlich auch einer der wenigen Männer in Deutschland, die die erste Jahresausgabe der gesammelten Emmas von 1977 (Foto) besitzt. 

Für mich ist das immer noch ein großer Schatz aus den Anfängen der Frauenbewegung. Gelegentlich lese ich darin, um mich an wichtige Zeiten und Themen zu erinnern.

Alice Schwarzer enttäuschte

Leider haben sie mich in den letzten Jahren mehrmals enttäuscht. Zuletzt durch einen offenen Brief, in dem sie über die Köpfe der Bevölkerung in der Ukraine hinweg von Bundeskanzler Olaf Scholz einen Waffenstillstand mit Putins Russland forderten. Ich frage Sie: Warum haben Sie keine Ukrainerinnen in ihre Aktion eingebunden? Unter den 28 Erstunterzeichner*innen ihres Offenen Briefes war nicht eine einzige Ukrainerin.

Haben Sie keine Ukrainerin gefunden, die Ihre Forderung unterstützt hat? Oder haben Sie erst gar keine gefragt, weil Sie den Ukrainerinnen nicht  zutrauen solche Forderungen zu stellen? Diese tapferen Frauen und Mädchen halten jeden Tag ihren Kopf hin und Tausende sind schon gestorben – für ihre Freiheit und ihre Überzeugungen. 

eMail an Alice Schwarzer

Enttäuscht haben sie mich auch auf einem ganz anderen Gebiet. Dabei geht es um mein Spezialthema, dem Schicksal von vermissten Menschen und ihren Angehörigen. Damit befasse ich mich nun schon als Autor 30 Jahre – eine mehrjährige WDR-Fernsehreihe, vier Bücher zum Thema, zahllose Artikel und Interviews. Auch habe ich in den letzten Jahrzehnten rund 2000 Angehörige von Vermissten ehrenamtlich beraten.

Ich habe Ihnen fast genau vor zwei Jahren, am 11. Juni 2019, eine eMail geschickt und sie gebeten, in Emma doch einmal über das Schicksal der Vermissten und ihrer Angehörigen zu schreiben. In dem Brief habe ich ihnen unter anderem folgendes geschrieben: „Jedes Jahr registriert die Polizei mehr als 100.000 Menschen als vermisst. Etwa ein Drittel sind weiblichen Geschlechts. Ich habe festgestellt, dass die Sorge um die vermisste Personen meist Frauen betrifft. (…) Frauen erleben Ungeheuerliches im Zusammenhang mit Vermisstenfällen.“ 

Niemand hilft Angehörigen

Ich habe ihnen auch Beispiele zum Schicksal von betroffenen Frauen und Mädchen beschrieben. Dieses: Die Lebensgefährtin eines Beamten steht mit dem Kind des Partners von einem Tag auf den anderen allein da, als der Mann wochenlang spurlos verschwindet und schließlich tot aufgefunden wird. 

Die Frau hat kein Sorgerecht für das Kind, sie weiß nicht, wie sie die Raten für das gemeinsam gekaufte Haus bezahlen soll. Sie hat kein Verfügungsrecht über das Konto des Partners. Keine Institution hilft mit Rat – etwa der Beantragung einer Abwesenheitspflegschaft.

Eine 16-Jährige eingekerkert

Und auch diese Beispiele: Eine Sechzehnjährige wurde anderthalb Jahre von ihren Entführern eingekerkert und gefoltert. Ein anderes 16-jährige Mädchen verliebte sich im Internet in einen 20-jährigen Mann und verschwand über Nacht. Die Polizei machte nichts. Erst durch die älteren Geschwister, die über spezielle Computer- und Internet-Kenntnisse verfügen, konnte sie nach 14 Tagen wieder gefunden werden.

Ignorierte Frauen-Schicksale

Leider blieb Emma stumm. Im Vorwort der ersten Emma im Februar 1977 haben Sie über die „Männerpresse“ geklagt und festgestellt: „… über das, was Frauen wirklich angeht und bewegt, wird nicht geschrieben (meist aus Ignoranz…)…“. Damals beschwerten Sie sich über das Desinteresse der Männer – heute machen Sie es selbst genau so.

Wie soll ich Ihr Verhalten gegenüber den vermissten Frauen und den Müttern, Großmüttern und Töchtern unter den Angehörigen sonst deuten? Schon vor vielen Jahren habe ich Sie einmal um Berichterstattung zu dem Vermisst-Thema gebeten und keine Antwort erhalten.

Nichts im Emma-Archiv

Auch diesmal gab es nach meiner Anregung keinen Bericht über das Schicksal von vieltausenden Frauen und Mädchen unter den jährlich rund 100.000 Vermissten und ihren jährlich mehr als 500.000 Angehörigen von Vermissten. 

Ohne jede Spur
Infos und Bestellen

Nach meinen Recherchen im Emma-Archiv hat sich Ihr Blatt – soweit ich das herausfinden konnte – noch nie mit dem Thema fundiert befasst. Ich komme darum zu der Schlussfolgerung, dass Ihnen das Schicksal von Frauen und Mädchen nicht mehr so wichtig ist. 

Ist Schwarzer Frauen-müde?

Vielleicht geht es Ihnen ja wie vielen anderen Journalist*innen, die sich einem Schwerpunktthema verschrieben haben: Irgendwann möchte man sich gedanklich mehr anderen Themen widmen. 

Vielleicht sind Sie ganz einfach Frauen-müde?! Ich finde das gar nicht verwerflich. Im Gegenteil. Als Journalist*in sollte man immer wieder das Spektrum für neue Themen und Aktivitäten öffnen.

Ehrlichkeit, Frau Schwarzer

Meines Erachtens wird es Zeit, dass sie der Öffentlichkeit endlich reinen Wein einschenken. Dass ihnen die Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft nicht mehr so sehr am Herzen liegen wie im Emma-Gründungsjahr 1977. 

Stehen Sie doch einfach dazu, dass ihnen andere Themen wichtiger sind. Oder dass sie eigentlich gar kein Interesse mehr haben an engagiertem Journalismus. Ich finde, liebe Frau Schwarzer, auch für Sie sollte es eine „Zeitenwende“ geben – es ist Zeit für mehr Ehrlichkeit.

Sind Sie meiner Meinung? Wer diesen „Offenen Brief an Alice Schwarzer“ gerne unterschreiben möchte – der Link zur Change-Website: https://chng.it/78ypL8PNbC

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(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de

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