„Warten auf ein Lebenszeichen“, hieß die Überschrift in der „Zeit“ am 10. April 1993. Vor mehr als 30 Jahren begann ich, mich mit dem Thema Vermisste und die Situation ihrer Angehörigen journalistisch auseinanderzusetzen. Meinem Bericht in der „Zeit“ folgte meine Fernsehdokumentation „Vermisst! Über Menschen, die verschwinden, und jene, die sie suchen“ am 13. April 1992 im WDR-Fernsehen.
Die Resonanz unter den Zuschauern war so groß, dass ich anschließend beim WDR eine Fernsehreihe „Vermisst“ bekam. Die Sendung wurde mehrere Jahre lang ausgestrahlt. Privatsender folgten mit ähnlichen Formaten. Erstmals befasst sich Deutschland ernsthaft mit den Problemen vermisster Menschen und ihrer Angehörigen.
Doch die Situation hat sich seitdem kaum geändert. Es gibt sogar noch mehr Vermisste: Damals waren es 70.000 Vermisste, die jährlich bei der Polizei registriert wurden. Heute sind es mehr als 125.000 Vermisste jährlich. Noch immer fordere ich mehr Engagement von Staat und Politik für das Thema.
In ganz Deutschland gibt es nur eine einzige kommunale Beratungsstelle für Angehörige von Vermissten. Sie wurde vor einigen Jahren von dem Oberbürgermeister der Stadt Emden, Tim Kruithoff, der Initiative „Vermisst in Niedersachsen – VerNie“ und mit meiner Unterstützung gegründet.
Ein „Zeit“-Dokument von 1992, „Warten auf ein Lebenszeichen“, ist noch immer aktuell
Das Schlimmste ist die Ungewißheit
Von Peter Jamin
10. April 1992, 8:00 Uhr
Von Peter H. Jamin
Auf Ibiza verschwand 1981 die damals zwanzigjährige Andrea Welsch aus Coburg. Die Polizei vermutet, dass sie von international tätigen Zuhältern und Drogendealern entführt wurde. In Düsseldorf sucht die Kripo seit Monaten nach dem „Kö-Millionär“ Otto-Erich Simon, der spurlos verschwunden ist. Der 27-jährige Martin E. aus Plangstadt meldete sich im Oktober 1989 während eines Urlaubs in Griechenland bei seiner Mutter zum letzten Mal, seitdem gilt er als vermisst. In Berlin sagte am 1. August 1991 ein 36-jähriger Berliner zu seiner Freundin: „Ich geh’ mal eben Zigaretten holen“, er kam nicht zurück. „Richte schon mal das Essen, ich komme gleich“, bat der 62 Jahre alte Lebensmitteltechniker Bernt Merten aus Freiburg am 18. November 1991 seine Ehefrau Pia. Seit diesem Anruf aus seinem Labor ist er spurlos verschwunden.
Rund 70 000 Menschen werden jedes Jahr beim Bundeskriminalamt in vermisst registriert. Fünfzig Prozent dieser Fälle klären sich in wenigen Tagen und Wochen, weitere dreißig Prozent in einigen Monaten, der Rest klärt sich später oder auch nie mehr auf. „Personen gelten als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und eine Gefahr für Leib oder Leben, eine rechtswidrige Tat, ein Unglücksfall, Hilflosigkeit oder Freitod-Absicht angenommen werden muss“, zitiert Kriminaloberrat Elmar Zimmermann vom nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt in Düsseldorf die Vorschriften. „Grundsätzlich kann jeder Bundesbürger gehen, wohin er will“, sagt Zimmermann. Und ein Erwachsener, bei dem die nötigen Verdachtsmomente nicht vorliegen, wird somit auch nicht von der Polizei gesucht, wenn er plötzlich verschwindet.
Eine Regelung, die Angehörige von Vermissten nur schwer verstehen können. Der Kölner Richard Thelen, dessen 27jähriger Sohn Sven-Ulrich vor einem Jahr verschwand, machte folgende Erfahrung: „Wir haben die Polizei verständigt, die das am Anfang auf die leichte Schulter genommen hat. Die meinten: ,Vielleicht hat er ’ne tolle Frau kennengelernt.’ Nach zwei Wochen durchsuchte die Polizei die Wohnung meines Sohnes, nach drei Wochen wurde er als vermisst registriert und nach fünf Wochen war sein Name dann im Computer.“ Es gibt neben der Polizei-Statistik eine vermutlich hohe Dunkelziffer von Vermissten, die von Angehörigen – aus welchen Gründen auch immer – erst gar nicht gemeldet werden und jenen volljährigen Vermissten, deren Registrierung von der Polizei aus den genannten Gründen abgelehnt wird.
Doch auch wenn die Polizei aktiv wird, fühlen sich die Zurückgebliebenen allein gelassen. Psychologen und Soziologen haben sich in den vergangenen Jahren zwar mit jugendlichen Ausreißern beschäftigt, doch kaum mit der Situation erwachsener Vermisster und ihrer Angehörigen. Es gibt auch keine Institutionen oder Organisationen, die helfen. Im Bonner Auswärtiges Amt kümmern sich gerade zwei Beamte um die jährlich im Ausland anfallenden rund tausend Vermissten-Fälle.
„Es wäre gut, wenn es Selbsthilfegruppen gäbe, die die Angehörigen bei der Bewältigung ihrer Probleme unterstützen könnte. Dann wären wir nicht so allein“, sagte Heidi Stein aus Hoitlingen bei einem Treffen mit Angehörigen von Vermissten in einer Düsseldorfer Buchhandlung, wo sie aus dem Buch „Wo ist Dirks vorlas. Es beschreibt ihr eigenes Schicksal: Ihr dreieinhalbjähriger Sohn verschwand 1979 auf dem Parkplatz Heimkehle/Uftrungen in der ehemaligen DDR.
Während einer bundesweiten Vermissten-Telefonaktion, die der Autor zur Vorbereitung eines Fernsehberichts („Vermisst! – über Menschen, die verschwinden, und jene, die sie suchen“ West 3, Montag, 13. April 1992, 20 Uhr) durchführte, meldeten sich über hundert Angehörige und berichteten von ihren schmerzlichen Erfahrungen. „Ich bin so verzweifelt“, erzählte eine Frau, „wenn man mir morgen meinen Mann tot zurückbringen würde, wäre ich fast dankbar.“
Am Strand von Palma de Mallorca spurlos verschwunden
„Wenn jemand stirbt, ist das zwar schrecklich, aber schließlich von Gott gewollt. Wenn jemand plötzlich verschwindet und nicht mehr auftaucht, ist das unmenschlich“, beschreibt die Kölnerin Edith Holl ihre Gefühle. Samstag, den 21. September 1991, wird sie in ihrem Leben nicht vergessen: Ihr 75jähriger Ehemann Ewald wollte am Strand von Playa Palma auf Mallorca nur eine Flasche Wasser holen. Es waren keine hundert Schritte, bis heute ist er spurlos verschwunden.
Immerhin, der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Die meisten Angehörigen haben dieses „Glück“ nicht. Denn es gibt keine Vermissten-Telefone, keine Organisationen, über die Suchende und Gesuchte – womöglich anonym – wenigstens ein Lebenszeichen austauschen könnten.
Allenfalls Angehörige jener Vermissten, bei denen ein Kapitalverbrechen vermutet wird, können sich über einen längeren Zeitraum der „Betreuung“ durch ermittelnde Kripobeamte sicher sein. Nach über einem Jahr steht Kommissar Manfred Gerhards von der Kripo Willich zum Beispiel noch immer in engem Kontakt zu den Eltern des fünfzehnjährigen Sascha Scheuvens, der seit Januar 1991 vermisst wird. Die Polizei verfolgte bislang über sechzig Spuren. Ohne Erfolg.
Manche Angehörige wenden sich in ihrer Verzweiflung an Hellseher, die bis zu 500 Mark pro Sitzung kassieren, oder an Detektive, die bis zu 220 Mark pro Stunde berechnen. Edith Holl fragt sich in diesen Tagen, ob sie das Angebot eines Hellsehers, der eine Vision zum Verschwinden ihres Mannes hatte, annehmen soll. Der Mutter des 25-jährigen Studenten Ingo Weitzel aus Düsseldorf, seit November 1987 vermisst, bestätigte ein Institut für Privat- und Wirtschafts-Prognostik in Rheinfelden nach mehreren telephonischen Sitzungen: „Es ist etwas Schlimmes passiert.“
Letztlich ist oft ein Aufruf in Zeitungen, Rundfunk oder Fernsehen der einzige Weg für die Angehörigen. „Doch Zeitungen kümmern sich nur um Kinder, um Hilflose oder um Fälle, in denen ein Verbrechen vorliegt“, stellte Richard Thelen fest, „Der Fall meines Sohnes war für die Zeitung ohne Belang.“ Anders ist dies, wenn sich der Vermisstenfall ausreichend spektakulär darstellt. Seit rund drei Monaten beschäftigt sich neben den siebzehn Beamten einer „Soko Kö“ eine Armada von Journalisten mit dem Schicksal des verschwundenen Millionärs Otto-Erich Simon in Düsseldorf. Er verkaufte angeblich für 25 Millionen Mark zwei Häuser an der Königsallee – und wurde seitdem nicht mehr gesehen.
Letzte Hoffnung, für Kripobeamte wie Angehörige, ist oft die Fernsehsendung Aktenzeichen doch Eduard Zimmermann benötigt, wie es Betroffene sagen, „Leichen“, wenn er tätig werden soll. „Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit, Vermissten-Schicksale innerhalb von Aktenzeichen XY … ungelöst zu schildern“, schrieb Zimmermann im Fall des damals achtzehnjährigen Schülers Armin Roth, der im März 1971 verschwand.
Zu der Verzweiflung kommen die materiellen Probleme. Für die Wohnungen der Vermissten zahlen die Angehörigen oft monatelang die Miete. Versicherungsbeiträge, Ratenzahlungen oder Schulden der Vermissten belasten zusätzlich das Haushaltsbudget. Die Familie Thelen bewahrt in der eigenen Wohnung noch immer alle Möbel des Sohnes auf. Die Angehörigen von Ingo Weitzel haben einen Banksafe für die Wertsachen gemietet, seine Möbel in einem Zimmer gestapelt. Die Angehörigen haben von einem Tag zum anderen einen „Nachlass“ zu regeln – dabei ist der Mensch, den es betrifft, weder in Gedanken noch offiziell tot, zehn Jahre beträgt die Frist, erst dann kann ein Vermisster für tot erklärt werden.
Tausende Angehörige warten auf ein Lebenszeichen der Vermissten
Doch viele Angehörige geben die Hoffnung nicht auf. Warten auf ein Lebenszeichen. Heidi und Fritz Roth schreiben noch nach über zwanzig Jahren seit dem Verschwinden des Sohnes: „… möchten wir anfragen, ob Sie nicht die traurige Geschichte mit unserem vermissten Sohn Armin für die geplante Reportage gebrauchen könnten?“
Hintergrundberichte zu meinem Spezialgebiet „Vermisste Menschen und die Situation ihrer Angehörigen“ im Experts Circle von Focus-online.
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Foto Screenshot: Jamin
Fotoporträt Jamin: Fyeo