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Short Story #8: Niedersachsens Regierung überlässt vermissten 6-jährigen Arian seinem Schicksalstod

Am Montag hat die niedersächsische Polizei die Suche nach dem sechsjährigen Autisten Arian eingestellt. Diese Entscheidung bedeutet, bildlich gesprochen, für den kleinen, orientierungslosen, schwer kranken, vermissten Jungen das Todesurteil.

Eine Woche lang hatte die Polizei in vorbildlicher Weise und mit enormem Aufwand und viel Kreativität nach dem Jungen gesucht. Mit großer Anteilnahme der Bevölkerung, Feuerwehr, Bundeswehr, Polizist*innen und anderen Rettungskräften – jeden Tag waren mehr als 1000 Menschen an der Suche beteiligt.

Ministerin: Aus für Arian

Man kann davon ausgehen, dass die Entscheidung, die aktive Suche einzustellen, nicht von der lokalen Polizeibehörde gefasst wurde. Diese Entscheidung, also „Daumen runter für Arian“, wurde im niedersächsischen Innenministerium von der niedersächsischen Innenministerin Daniela Behrens  (SPD) gefällt. Alles andere widerspricht den normalen politischen Regeln bei solchen schwierigen Entscheidungen.

Ob im Fußball Tausende Polizisten quer durch die Republik zu den Fußballplätzen gekarrt werden oder die Suche nach einer vermissten Person mit Hundertschaften der Polizei vorgenommen wird, sind immer die Entscheidungen der Innenminister der Länder.

Zu viel Geld für ein kleines Kind

Letztlich ist es auch immer eine Entscheidung darüber, wie viel Geld man bereit ist, für den Polizeieinsatz zur Rettung eines einzelnen Kindes zu bezahlen. Offensichtlich war das Budget von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) erschöpft, die Retter wurden ergebnislos von seiner Ministerin nach Hause geschickt.

Während bei Fußballspielen gegen aufgebrachte Fans und brutale Raudis viele Millionen Euro für Polizei-Aufmärsche investiert werden, war Arian das Geld nicht wert. Fußball ist offensichtlich für die niedersächsische Landesregierung mehr wert als ein vermisstes Kind, das durch Kommunikations- und andere gesundheitliche Beeinträchtigungen vermutlich noch immer durch die niedersächsische Landschaft rund um Bremervörde-Elm irrt.

Arian dem Tod überlassen

Das bedeutet natürlich: Die Landesregierung Niedersachsen überlässt den kleinen Autisten, der orientierungslos und vermutlich seit einer Woche halb verhungert und halb verdurstet durch die Landschaft irrt, seinem Schicksal – dem ziemlich sicheren Tod. Das ist erschreckend unmenschlich. Das zeigt, wie wenig Interesse Deutschlands Politiker an den mehr als 95.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von bis zu 17 Jahren haben, die jedes Jahr bei der Polizei als vermisst registriert werden.

Ich weiß, wovon ich spreche: Seit fast 35 Jahren befasse ich mich mit dem Schicksal von Vermissten und ihren Angehörigen – u. a. in einer mehrjährigen Fernsehreihe des WDR, in vier Büchern, bei ehrenamtlichen Beratungen von mehr als 2000 Vermissten-Angehörigen. 

Einsam in einer kalten Welt

Eine Entscheidung dafür, eine aktive Suche nach einem vermissten Kind zu beenden, ist immer auch eine Entscheidung dafür, den Tod des Kindes in Kauf zu nehmen. Denn bisher hatte der kleine Arian noch eine Chance, dass man ihn findet. 

Sicher, die Suche nach dem Kind ist schwer. Vermutlich versteckt er sich, wenn er unbekannte Stimmen hört. Er meldet sich nicht, wenn er Hilfe benötigt. Er ist ein kleiner, einsamer, kranker Junge. Ein Autist, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Nicht weiß, wohin, warum. Einsam in einer kalten Welt.

Durst in Pfütze stillen

Mediziner wissen, dass der Hunger nicht das größte Problem für ihn ist – einer der von Medien befragten Ärzte erklärte, dass der Junge möglicherweise auch Gras essen würde, um seinen Hunger zu stillen. Das Wichtigste ist es, in solch einer Überlebenssituation nicht zu verdursten. Auch da hätte Adrian Möglichkeiten gehabt, seinen Durst zu stillen. In Pfützen, am Ufer von kleinen Gewässern oder dem Fluss. 

Die Entscheidung, die aktive, von der Polizei großangelegte Suche schon nach einer Woche einzustellen, bedeutet, den Eltern des Jungen die letzte Hoffnung zu nehmen, das Kind lebend wiederzusehen – falls nicht ein Wunder geschieht! Mit der Entscheidung ist ebenfalls eine Entscheidung gegen das Leben eines Kindes gefällt worden. Denn von allein wird der Junge vermutlich nicht heimkehren – er weiß im Moment nicht, wo er sich befindet.

Millionen für den Fußball

Ich habe noch nie gelesen, dass ein Innenminister eines Bundeslandes seine Polizeimannschaften nicht in ein Fußballstadion geschickt hat, weil er keine Aussichten auf Erfolg sah. Schon seit Jahren schlägt man sich mit dem Fußball-Pack herum. 

Wenn es um radikale Fans geht, ist der Polizei und der Politik jedes Euro Recht, um den Radau einzudämmen. Koste es, was es wolle. Denn auf den Kosten für die Polizeieinsätze beim Fußball bleibt der Staat sitzen, während die DFB-Funktionäre ihren Spaß beim Fußballspiel auf den Ehrentribünen aussitzen. 

Und keinen Pfennig für die Polizei-Einsätze bezahlen. Das wird auch bei der kommenden Europameisterschaft in Deutschland sein, wo Zehntausende Polizisten im Einsatz sein werden – von Steuergeldern bezahlt.

Demenz-Patienten verdursteten

In den offiziellen Stellungnahmen gibt die Polizei an, man sehe keine Möglichkeiten mehr, das Kind zu finden. Das stimmt nicht. Ich weiß von anderen Vermissten-Suchen, bei denen man bei der Suche etwa nach dementen Personen nicht alle Türen, sondern die falschen Türen geöffnet hat und wo demente Menschen gestorben sind.

Orientierungslose demente Patienten finden sich in einer ähnlichen Situation wie ein autistisches sechsjähriges Kind.  Das war in einer Hamburger Klinik so, als ein an Demenz erkrankter, pensionierter Kriminalkommissar nicht gefunden wurde. Das war in meiner Lieblingswohnstadt Düsseldorf so, als im Stadtteil Gerresheim ein vermisster, an Demenz erkrankter Senior nicht gefunden wurde. Und das war so auch im Bonner Loch, einem Verkehrsknotenpunkt, als ein von Demenz betroffener, ehemaliger Archivar der Universität den falschen Raum betrat, nicht mehr hinausfand und elendig starb. 

Nicht alle Türen geöffnet

Bei der Suche nach diesen schwer kranken Personen hatte man zwar viele, aber eben nicht alle Türen geöffnet. Diese an Demenz erkrankten Patienten sind elendig verhungert und verdurstet, weil man nicht alle Türen geöffnet hat, nicht lange genug gesucht hat wie jetzt bei dem kleinen Arian.

Man kann sagen, auch bei der Suche nach dem kleinen Adrian sind sicherlich viele Türen nicht geöffnet worden, hat man viele Ecken und Büsche und Gebäude und Schuppen nicht nach dem Jungen abgesucht. Das selbst ist kein Vorwurf an die Hilfskräfte, die teilweise selbst sehr erschöpft von der Suche weiter durch die Landschaft stampften, um den Jungen zu finden. Das ist ein Vorwurf gegen die Landesregierung in Niedersachsen, die seit Montag nicht mehr mit voller Kraft nach dem Jungen suchen lässt.

Bücher zum Vermisst-Skandal

Über Polizei- und Politikversagen im Zusammenhang mit Vermisstenfällen habe ich in meinem aktuellen Buch „Ohne jede Spur. Wahre Geschichten von vermissten Menschen“ in mehreren Short Storys geschrieben. Aber so deutlich hat es die Politik noch nie geschafft, der Bevölkerung klarzumachen, wie gleichgültig ihr das Schicksal von Vermissten und ihren Angehörigen ist. Adrian wird in Zukunft das beste Beispiel für Politikversagen im Vermisstenbereich in Deutschland sein. Wir sollten uns daran erinnern, wenn im Mai der „Tag der vermissten Kinder“ begangen wird.

Vermisst haben keine Lobby

Vermisster haben in Deutschland keine Lobby. Schon 2007 habe ich in einem Sach- und Fachbuch im Verlag VDP der Gewerkschaft der Polizei (GdP) „Vermisst – und manchmal Mord“ darauf hingewiesen, dass man in Deutschland mehr mit dem Thema vermisster Menschen und der Situation ihrer Angehörigen beschäftigen muss. 

Meine Mahnung verhallten ungehört. Lediglich im (niedersächsischen) Emden hat der Oberbürgermeister sich vor rund zwei Jahren entschlossen, eine kommunale Vermisst-Beratungsstelle für Angehörige einzurichten. Ein einsamer Leuchtturm in einem Deutschland, deren Politiker*innen die Vermissten und ihre Angehörigen gleichgültig sind. 

Vermisste sind Politiker*innen egal

Polizei-intern wurde mir schon 2007 bestätigt, dass ich mit meiner Meinung richtig liege. Das Thema „Vermisste“ ist politisch auf keiner Ebene (von den Kommunen über die Länder bis in die Bundesregierung) als Gesprächs- und Diskussionsthema gewollt. 

Nach der Veröffentlichung meines VDP-GdP-Buches schrieb ein Rezensent, selbst Verwaltungsdirektor in der Berliner Polizei, in einer Polizei-Fachzeitschrift: „Mit erkennbar herausragendem Fachwissen – auch über polizeiliche Vorschriften, Handlungszwänge und Nahtstellenprobleme – dem nötigen Einfühlungsvermögen sowie der erforderlichen Standhaftigkeit zur Untermauerung berechtigter Forderungen in Richtung Gesellschaft, Polizei und besonders Politik, durchaus aber auch aufklärend, Chancen und Grenzen für Betroffene aufzeigend, gelingt mit diesem Werk der Versuch einer möglichst umfassenden Themenbehandlung  (…) jeder Polizeibeamte, insbesondere Auszubildende an den Polizeischulen oder Fachhochschulen sollte den Inhalt dieses Buches kennen.“

„Tag der vermissten Kinder“ im Mai

Im nächsten Monat, am 25. Mai, begeht man weltweit den Tag der vermissten Kinder. Wie es der Zufall will, ist der Name des Kindes, zu dessen der Erinnerung dieser Tag eingerichtet wurden, so ähnlich wie der von Arian: Etan. Sechs Jahre alt sind beide.

Der Tag der vermissten Kinder wird seit 1983 am 25. Mai begangen. US-Präsident Ronald Reagan wählte den Tag zum Gedenken an den sechsjährigen Etan Patz, der am 25. Mai 1979 auf dem Weg zur Schule verschwand und dessen Schicksal Jahrzehnte ungeklärt blieb.

Rettung ohne Rücksicht auf Kosten

Wenn ein Kind auf der Welt in einen Brunnenschacht fällt, werden wochenlang Rettungsmaßnahmen so lange durchgeführt, bis das Kind gerettet ist. Wenn eine Schulklasse in einer Höhle von Wasser eingeschlossen wird, kämpfen Retter ohne Rücksicht auf Kosten und eigene Gefahren für die Rettung der Kinder. 

Den kleinen Arian haben Politik und Polizei in Niedersachsen nach einer Woche aufgegeben.

(Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Personen oder Projekten ist meist zufällig und nur in Einzelfällen so vorgesehen. Die Short Storys sind oft von wahren Ereignissen inspiriert und orientieren sich darüber hinaus an Visionen und in der Zukunft möglichen Entwicklungen in der Gesellschaft. Die Wahrheit befindet sich allerdings manchmal nur einen Schritt entfernt. Oder wie es der Schriftsteller und Journalist Theodor Fontane einst ausgedrückt hat: „Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilige.“ )

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FotoMontage: Michael Seelbach, Polizei

Fotoporträt Jamin: Jörg Haas http://peoplefactor.de

(Zeitgleich veröffentlicht in meinem Freitags-Blog „Auf einen Cappuccino“ im Wirtschaftsportal Business-on.de)

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